Bedarf oder Nachfrage? Nachhaltige Proteinversorgung – ein weltweit unterschätztes Problem
Im Rahmen eines interdisziplinären Symposiums des Leibniz-Forschungsverbunds „Nachhaltige Lebensmittelproduktion und gesunde Ernährung“ am 06. Dezember 2013 in Berlin diskutierten führende WissenschaftlerInnen aus ganz Deutschland drängende Fragen hinsichtlich einer ausreichenden Proteinversorgung für die wachsende Weltbevölkerung und künftige Forschungsansätze – von der molekularen Ebene bis zur systemübergreifenden ökonomischen Analyse.
Mit dem Forschungsverbund gelingt erstmals die Verknüpfung von Forschungsthemen der Agrar- und Umweltwissenschaften, der Ökonomie und Sozialwissenschaften mit denen der ernährungsmedizinischen Forschung. Das Symposium stand unter dem Motto „Nachhaltige Proteinversorgung und gesundheitliche Wirkung“.
Ernährungssicherung ist eine der großen globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts - insbesondere im Hinblick auf eine ausreichende und ausgewogene Proteinversorgung. Studien zur Prognose des globalen Ernährungsbedarfs basieren meist auf dem Energiebedarf. Mit steigendem Einkommen wird dieser aber zunehmend aus proteinreicher Kost gedeckt. Die Nachfrage nach Fleisch steigt mit dem Wachstum der Weltbevölkerung – verbunden mit Folgen für Produktion, Umwelt, Klima und Weltmärkte. Bereits heute ist innerhalb der EU, wo im Vergleich zu asiatischen Schwellenländern deutlich mehr Lebensmittel tierischen Ursprungs erzeugt und verzehrt werden, eine Eiweißlücke im Futtermittelbereich zu verzeichnen. Rund 38 Mio. Tonnen Sojabohnen und –extraktionsschrot werden jährlich als eiweißreiches Kraftfutter importiert. Wie können wir der prognostizierten Proteinlücke begegnen? Mit Fleisch, Fisch, Hülsenfrüchten - oder Fliegenmaden?
Prof. Dr. Reiner Brunsch, Sprecher des Forschungsverbundes, unterstrich die Komplexität der Aufgabe: „Wir sehen uns einem Zielkonflikt gegenüber. Einerseits gilt es, die Produktivität der tierischen Erzeugung zu erhöhen, andererseits Ziele wie Ressourcenschonung, Klimaschutz, Tierschutz und artgerechte Haltung nicht zu vernachlässigen. Angesichts eines deutlich höheren Landverbrauchs für die Produktion tierischen Proteins und der beachtlichen Mengen von Treibhausgasen, die entlang der Wertschöpfungskette Fleisch emittiert werden – unter anderem auch durch Landnutzungsänderungen - stellt sich die Frage, wie wir den weltweiten Proteinbedarf künftig decken können,“ so Brunsch. „Alternative Proteinquellen wie Leguminosen oder essbare Insekten bieten da interessante, noch weitgehend unerforschte Möglichkeiten.“ In diesem Zusammenhang diskutierten die Experten die Notwendigkeit, die Erträge pflanzlicher Produkte hinsichtlich Proteingehalt und –zusammensetzung mit züchterischen Maßnahmen weiter zu verbessern und innovative ressourceneffiziente Produktionsverfahren zu entwickeln wie die kombinierte Erzeugung von Gemüse und Fischen in einem weitgehend geschlossenen System – wobei Insekten und Mikroalgen als Fischfutter und Abwärme aus der Biogaserzeugung genutzt werden könnten.
Eine zweite Herausforderung besteht darin, eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Neben der Entwicklung einer ressourcenschonenden und klimaverträglichen Proteinerzeugung stand daher auch die gesundheitliche Wirkung von Proteinen im Fokus des Symposiums. Prof. Dr. Dr. Hans-Georg Joost vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) und stellvertretender Sprecher des Forschungsverbundes beschrieb die Wirkungen einer proteinreichen Kost auf den menschlichen Organismus. Je nachdem, welche Lebensmittel der Speiseplan enthalte, könne eine proteinangereicherte Diät positive diätetische Effekte haben, aber auch unerwünschte Wirkungen zeigen, so Joost. Proteine können Unverträglichkeiten und Allergien auslösen, der Genuss von insbesondere rotem Fleisch, also Rind, Schaf oder Schwein, das Risiko erhöhen, an Darmkrebs oder auch Typ-2-Diabetes zu erkranken. „In vielen Fällen kennen wir zwar den Zusammenhang, wissen aber noch zu wenig über die Wirkmechanismen,“ beschrieb Joost den Forschungsbedarf aus Sicht der Ernährungsforschung. Insgesamt konstatierten die Forscher, dass verlässliche Interventionsstudien fehlten. Auch zur gesundheitlichen Wirkung alternativer Proteinquellen wie Leguminosen oder essbaren Insekten besteht Forschungsbedarf. Darüberhinaus gilt es vor allem, Ernährungsmuster und Konsumverhalten ursächlich aufzuklären – ein aus wissenschaftlicher Sicht weitgehend unbeforschtes Terrain.
Als Ergebnis des Treffens wurden erste konkrete Schritte einer künftigen Forschungszusammenarbeit beschlossen. Die Verbund-Partner werden ihre spezifischen Fachkompetenzen in einem interdisziplinären Ansatz neuartig miteinander verknüpfen und Wertschöpfungsketten untersuchen, die eine klimafreundliche und ressourceneffiziente Proteinproduktion in einem weitestgehend geschlossenen Stoffkreislauf ermöglichen sollen.
Der Leibniz-Forschungsverbund „Nachhaltige Lebensmittelproduktion und gesunde Ernährung“ – kurz „Lebensmittel und Ernährung“ - bündelt die Kompetenzen von 15 Leibniz-Einrichtungen mit dem Ziel, zukünftige Fragestellungen in den Bereichen Lebensmittelproduktion und Ernährung zu identifizieren und langfristig durch gemeinsame Forschung mit weiteren Partnern aus Forschungseinrichtungen, Hochschulen und der Wirtschaft zu lösen. Der Verbund versteht sich als disziplinübergreifende Forschungsstruktur. Er verkörpert natur-, medizin- ingenieur-, wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Kompetenzen und Erfahrungen in der wissenschaftlichen Politikberatung. Darüber hinaus besitzen die Mitglieder Kompetenzen in allen relevanten Skalenebenen — von den kleinsten biologischen Struktureinheiten über Nutzorganismus-Umwelt-Beziehungen bis hin zu volks- und globalwirtschaftlichen Betrachtungen oder in der Bewertung von Verbraucherverhalten.
Der Forschungsverbund sieht in der Erarbeitung systemwissenschaftlicher Grundlagen ein wesentliches Ziel, um der interdisziplinären Herausforderung „nachhaltige Lebensmittelproduktion und gesunde Ernährung“ in ihrer Komplexität auf allen Systemebenen gerecht zu werden und der Gesellschaft wissenschaftlich begründete, systemisch geprüfte Handlungsempfehlungen geben zu können.
Partner im Verbund:
Deutsche Forschungsanstalt für Lebensmittelchemie (DFA), Freising
Deutsches Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (DIfE)
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin
Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa (IAMO), Halle
Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF), Müncheberg
Leibniz-Institut für Agrartechnik Potsdam-Bornim (ATB)
Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau (IGZ), Großbeeren, Erfurt
Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB), Berlin
Leibniz-Institut für Nutztierbiologie (FBN), Dummerstorf
Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie (IPB), Halle
Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK), Gatersleben
Leibniz-Institut für Plasmaforschung und Technologie (INP), Greifswald
Leibniz-Zentrum für Marine Tropenökologie (ZMT), Bremen
Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK)
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)
Kontakt:
Prof. Dr. Reiner Brunsch - Sprecher des Leibniz-Forschungsverbunds Lebensmittel und Ernährung
Dr. Birgit Rumpold – Leibniz-Forschungsverbund Lebensmittel und Ernährung
Helene Foltan – Presse- und Öffentlichkeitsarbeit